"Kümmert euch um die Kinder" Starker Appell eines besonderen Bielefelder Chefarztes

Bielefeld. Es ist fast schon ein Appell. Einer, der auf Nähe abzielt, auf alltägliche Hilfe, aufs Kümmern. Auf das intensiv-positive Annehmen der Geflüchteten. Ein Appell aus dem Munde eines Klinikchefs, eines Wissenschaftlers. Michael Siniatchkin ist Universitäts-Professor an der "Uni-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie" - er hat die Klinik seit 2019 aufgebaut und einen gewaltigen Ansturm erlebt. Die Pandemie war der Treiber, Bedarf aber gab es auch vorher schon genug. Und jetzt kommen Menschen, die geflüchtet sind. Kinder und Jugendliche, die leiden, aber nicht zwingend psychisch erkranken müssen. Deshalb appelliert Siniatchkin: "Jetzt sind nicht so sehr die Experten gefragt, sondern viel mehr die Ehrenamtlichen." Die Bürger. Es gelte, in der Phase des Ankommens die Geflüchteten zu integrieren. Essen und Schlafen hätten oberste Priorität, dazu aber kämen soziale Faktoren: "Wir können sehr viel präventiv leisten, durch Schule, durch Vereine, über Aktivitäten und Beschäftigungen." Siniatchkin: "Wir müssen ihnen in dieser für sie neuen Welt Lösungen zeigen, Angebote machen, sie integrieren." Struktur, Anteilnahme, Verständnis Die ukrainischen Kinder und Jugendlichen bräuchten Strukturen, Anteilnahme, Verständnis - "ein Gefühl der sozialen Unterstützung und das Gefühl, dass sie willkommen sind". Siniatchkin: "Den Krieg können sie sich nicht aus dem Kopf schlagen, wir aber können psychischen Erkrankungen vorbeugen, wenn wir den Kindern helfen, ihre Zeit zu füllen, in den Alltag zu finden, diesen zu meistern." Die psychischen Probleme kämen oft erst später, und wenn nun präventiv gearbeitet werde, könne das einiges abfedern. Geschehe das nicht, sieht er das Risiko, dass es wie in der Pandemie laufe. In dieser gab es paradoxerweise in der ersten Welle weniger Klienten in der Klinik, weniger Erkrankungen. Offenbar war es für viele eher eine Art Auszeit von Schule und Stress. Doch dann, als die zweite Welle kam, mit all ihren Ungewissheiten und dem nicht absehbaren Ende, der Einsamkeit, da gab es eine stetig größer werdende Welle psychischer Erkrankungen. Die Schwere der Erkrankungen stieg, die Häufigkeit auch. "Gnadenlos ausgeleuchtet" Siniatchkin: "Wie ein Lichtstrahl hat Corona gnadenlos jene Bereiche ausgeleuchtet, in denen die Gesellschaft ihre Schwächen hat." Junge Leute, die vorher ihre Schwierigkeiten in der Schule noch kompensieren konnten, weil es andere Ressourcen gab (Freunde, Familie, Nachbarn, Vereine), kamen laut Siniatchkin "aus dem Rhythmus". Die ständig wechselnden Bedingungen konnten sie nicht bewältigen - ihre Struktur litt. "Sie hatten irgendwann große Schwierigkeiten, wieder mitzumachen." Ab Mai 2021 stieg der Druck auf die Klinik, "und es wird jetzt immer schlimmer". Der Chefarzt: "Schwächen wurden potenziert, ein Mangel nicht mehr kompensiert - die Lage wurde immer defizitärer." Die Pandemie dauert zu lange. Kontrollverlust, Unvorhersagbarkeit, Einsamkeit, Hilflosigkeit sind Stichworte. Und: "Die kaum beherrschbare Situation sowie fehlende Perspektiven." All das sei für Kinder und Jugendliche wie eine Naturgewalt. Eine, die krank macht. Den Boden unter den Füßen wegzieht. Depressionen, Ängste, Suizidalität Und so platzt die Klinik mit ihrer Ambulanz und ihren 43 Betten im stationären Bereich aus allen Nähten. Ängste, Depressionen, Essstörungen, eine höhere Suizidalität (in Gedanken und auch auf der Ebene der Versuche) - das sind Folgen. Das Team um Siniatchkin ist längst mit den Problemen gewachsen, von anfangs gut 40 auf jetzt fast 150 Mitarbeiter. Der Bedarf ist riesig, die Klinik soll ausgebaut werden. Der Antrag ist gestellt, es sollen einige Betten mehr werden. Die Hoffnung: Möglichst schon Ende 2022 soll das am Remterweg benachbarte Haus Abendlicht vom Altenheim zum Klinik-Anbau geworden sein (siehe Info-Kasten). Ob das dann reicht, ist wie das Lesen im Kaffeesatz. Was macht die Pandemie? Was der Krieg? Siniatchkin erlebt an sich selbst, wie der Krieg in den Kopf kriecht. Er ist in Russland geboren, hat Verwandte und Freunde in der Ukraine und in Russland. Er und seine Familie seien "gedanklich permanent in diesem Krieg, wir kommen da gedanklich nicht raus". Mehr möchte er dazu nicht sagen, aber umso klarer wird, warum er mit Blick auf geflüchtete Kinder und Jugendliche sagt: "Helfen wir ihnen im Alltag, zeigen wir ihnen, wie hier im Supermarkt bezahlt wird, bieten wir ihnen Aktivitäten, geben wir ihrem Alltag eine Struktur, bringen wir sie in die Schulen - denn am schlimmsten wäre jetzt, wenn diese Menschen nicht wissen, wohin mit ihrer Zeit." Zieht den Boden weg Dann werden Flucht und Krieg und Entwurzelung übermächtig, ziehen jeden Zentimeter Boden weg unter den Füßen - und haben es psychische Erkrankungen leicht, die Kinder und Jugendlichen zu erreichen. So, wie in den Jahren nach 2015 bei syrischen Geflüchteten: Es folgten Perspektivlosigkeit, Schlafprobleme, psychosomatische Schmerzen, Ängste, Depressionen. Je früher integriert werde, desto besser. Auch deshalb sei er mit Sozialdezernent Ingo Nürnberger im Gespräch über ein präventives Therapieprogramm für Geflüchtete - es soll bereits im Mai, Juni starten. Umbau Haus Abendlicht Für 2,2 Millionen Euro (1,6 vom Land, 0,6 von Bethel) soll das Altersheim am Remterweg 11 zur Klinik werden.Drei Etagen werden umgebaut. Eine soll zur Ambulanz gehören, die es seit 2020 gibt. Sie hat eine große und entlastende Bedeutung, hier sollen möglichst viele Klienten so betreut werden, dass sie nicht stationär aufgenommen werden müssen.Eine weitere Etage soll zur Forschungsabteilung der Uni-Klinik werden. Themenfelder gibt es reichlich: Von der angewandten Therapie über die Medienkompetenz, neue Apps, die Roboterforschung bis hin zur Stimulation statt Medikamentengabe bei ADHS.In eine weitere Etage soll die Schule der Klinik einziehen. Die 43 Kinder und Jugendlichen (5 bis 18 Jahre alt) aus dem stationären Bereich - der immer leicht überbelegt ist - werden hier beschult; wie auch schwierig beschulbare Kinder.

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