Dominica Im Dschungel der Kaiseramazonen

Dominica Nein, wasserscheu sind unsere Pferde nicht“, sagt Collata Francis und stürmt mit ihrer Stute geradewegs ins Meer. Über den Bergen Dominicas ist eben erst die Sonne aufgegangen, doch im Cabrits-Nationalpark sind die Urwaldvögel längst wach. Ihr Gezeter übertönt die Wellen des Ozeans, die an den dunklen Vulkansand am Rand des Dschungels schwappen. Die 17-Jährige liebt es, gemeinsam mit ihrer Mutter Valerie früh am Morgen am Strand entlang zu reiten und mit ihren Pferden schwimmen zu gehen, wenn sie die Bucht noch ganz für sich allein haben. Danach verschwinden sie auf den Wanderpfaden, die sich im Dschungel auf Dominicas Cabrits-Halbinsel verlieren. Die Familie bietet auch für Urlauber Ausritte an. &bdquo;Erst durch den Bergdschungel reiten und dann mit den Pferden im Ozean schwimmen, das ist in der Karibik ziemlich einzigartig”, sagt Collata, während sie am Wegrand nach Antillentauben und Kolibris Ausschau hält. "Für Leute, die die Natur lieben, gibt es hier keinen schöneren Ort als Dominica." Wer mit Collata und Valerie den Regenwald erkundet, fühlt sich wie die ersten spanischen Seefahrer, die Dominica zu Beginn des 16. Jahrhunderts erforschten. Kolumbus hatte als erster Europäer die Insel bereits 1493 entdeckt, wohl aber aufgrund ihrer wenig einladenden Steilküsten und dichten Urwälder nie betreten. Ihren lateinischen Namen erhielt Dominica nach dem Tag ihrer Entdeckung, einem Sonntag. Vom 16. bis Ende des 18. Jahrhunderts rissen sich Spanier, Franzosen und Engländer um die Insel, bis sie sich die britische Krone einverleibte. Wegen der Unwegsamkeit der Insel und nur langsam voranschreitender Erschließung gelang es den indigenen Kalinago, sich eine relative Selbstbestimmung zu bewahren. Dominica ist heute eine der wenigen Inseln der Karibik, die noch immer eine kleine Minderheit an Ureinwohnern hat. Seit 1978 ist Dominica mit ihren heute gerade einmal rund 72.000 Einwohnern unabhängig. Anders als ihre Nachbarinseln der Kleinen Antillen, die vor allem Strandurlauber anziehen, ist Dominica noch immer wenigen Touristen bekannt. Die Insel liegt in der östlichen Karibik zwischen den französischen Überseegebieten Guadeloupe und Martinique. Unter Karibik-Kennern gilt sie als die ursprünglichste. Manche sagen, es wäre wahrscheinlich die einzige der von Kolumbus gesichteten Inseln, die er noch heute wiedererkennen würde. Während andernorts Hotelanlagen, Jachthäfen und Anlegestellen für Kreuzfahrtgiganten das Landschaftsbild prägen, hat Dominica sich ihre wilde Natur bewahrt. Im Cabrits-Nationalpark endet Dominicas bekanntester Wanderweg. Der Waitukubuli Trail ist mit fast 200 Kilometern der längste der Antillen. Viele Wanderer laufen ihn jedoch in umgekehrter Reihenfolge von Norden nach Süden oder picken sich einzelne Etappen heraus. Für insgesamt 14 Tagesetappen ist der Fernwanderweg konzipiert. Besonders Sportliche schaffen ihn aber in einer Woche. Wer will, kann einige Teile auf dem Pferd oder als Mountainbiker zurücklegen. Auf den schweißtreibendsten Etappen im Inselinneren durchquert man einsame Nebelwälder und entdeckt in tiefe Schluchten stürzende Wasserfälle. Besonders abenteuerlich sind der Morne Trois Piton- und Diablotins-Nationalpark mit ihrer einzigartigen Vogelwelt. "Auf Dominica gibt es 186 Arten", sagt Bertrand Jno Baptiste, "ich habe jede einzelne gesehen." Wer mit Dr. Birdy, wie hier alle den einheimischen Vogelexperten nennen, durch den Bergwald wandert, sieht den Urwald mit anderen Augen. Bertrands Interesse für die gefiederten Juwelen des Dschungels wurde schon früh geweckt. Bereits mit 18 Jahren arbeitete er für den WWF und setzte sich für den Schutz der Bergwälder ein. Nach und nach lernte er immer mehr über die zauberhaftesten Bewohner Dominicas. Heute ist der 61-Jährige meist für Touren ausgebucht, die Vogelbegeisterte aus der ganzen Welt nach Dominica zieht. Wer den leidenschaftlichen Naturführer durch den Dschungel am Fuß des Morne Diablotins, des mit fast 1.500 Metern höchsten Gipfels der Vulkaninsel, begleitet, lernt viel über das einzigartige Ökosystem. "Dominica zieht besonders viele Vogelbeobachter an, weil es hier noch viele ursprüngliche Vegetation gibt", erklärt er. &bdquo;Manchmal kann man über 50 Arten an einem einzigen Tag sehen.“ Durchs Geäst über dem Vogelführer flattern leuchtend rotkehlige Bartgimpelfinke, zitronengelbbäuchige Zuckervögel und Perlaugen-Spottdrosseln. Der winzige Antillenhaubenkolibri entlockt Bertrands Begleitern ein staunendes Jauchzen. Wie flinke Hummeln schwirren die funkelnden Zwerge von Blüte zu Blüte. Nicht weniger schillernd sind der Purpurkehl- und Blaustern-Antillenkolibri, die er nicht weit voneinander entdeckt. "Ihre Schnäbel sind unterschiedlich gekrümmt, weil jeder verschiedene Blüten besucht", erklärt der Guide. Die Antillen mögen nicht zu den klassischen Reisezielen für Vogelbeobachter gehören, doch speziell auf sie ausgerichtete Touren erfreuen sich in der Karibik wachsender Beliebtheit. Nach fast drei Jahren Pandemie, in denen die Inseln für die meisten ein unerreichbares Sehnsuchtsziel blieb, haben sich für viele die Ansprüche an die Trauminseln geändert. Für eine Auszeit auf den Antillen erwarten Touristen heute nicht nur Sonnenbaden an selfie-tauglichen Strandkulissen und Cocktailschlürfen unter Kokospalmen. Die von Reiseveranstaltern und Internetportalen gepriesenen Tropenidyllen erfüllen nur selten restlos die Träume vom unangetasteten Naturparadies. Selbst die vor Farben sprühenden Instagram-Fotos der Korallenriffe fallen vor Ort häufig ernüchternd blass aus. Dominica hat sich jedoch viel von ihrer Ursprünglichkeit bewahrt und nennt sich selbst stolz die Naturinsel. Im Morne-Diablotin-Nationalpark verrät ein Krächzen über den Baumkronen die Anwesenheit einer Gruppe Blaukopfamazonen. Blicken lassen wollen sich die moosgrünen Papageien mit dem roten Band unter den blauen Hälsen jedoch nicht. Bertrand hofft, dass seine Gäste von einem Aussichtspunkt über einem Urwaldtal wenigstens eine Kaiseramazone sichten werden. Die vom Aussterben bedrohte Schwesternart ist von Kopf bis zum Bauchende glänzend veilchenviolett. Als Nationalvogel ziert eine Kaiseramazone die Landesflagge Dominicas. Keinem anderen Papagei auf der Welt wird diese Ehre zuteil. Angestrengt hält der Vogelführer mit dem Fernglas nach den Tieren Ausschau. &bdquo;Sie gehören zu den seltensten Papageien der Welt“, erklärt er, &bdquo;niemand weiß, wie viele es noch immer auf Dominica gibt.“ Vermutlich sind es weniger als 200, die noch immer durch die Bergwälder der Insel flattern. Ein einsetzender Regenschauer macht alle Hoffnung zunichte. Stattdessen begeistert ein anderer Vogel im Unterholz die Dschungelwanderer. Ein Blaukopfkolibri posiert zur Freude der Fotografen direkt neben dem Bergpfad und lässt sie auf fast zwei Armlängen an sie heran. &bdquo;Es ist ein Männchen, das sein Revier verteidigt“, sagt Bertrand. Das zarte Geschöpf mit dem enzianfarbenen Köpfchen und den smaragdfarben schillernden Schulterfedern lässt sie alle Enttäuschung über die verpassten Papageien vergessen. Nach der Wanderung im Bergwald haben sich Vogelbeobachter einen entspannten Strandtag verdient. Am Batibou Beach im Norden der Insel lässt sich mit einem guten Buch unter Kokospalmen ein ganzer Tag im heißen Sand verschlummern. Film-Fans werden am nahen Hampstead Beach eine der traumhaften Kulissen aus den &bdquo;Fluch der Karibik”-Blockbustern wiedererkennen. Die Einheimischen zieht es jedoch eher an den Mero Beach an der Westküste. Auch unter Wasser gibt es auf Dominica einiges zu entdecken. Taucher schwärmen von den Korallenriffen, die zu den farbenprächtigsten der Karibik zählen. In den Gewässern vor Dominica lebt ganzjährig auch eine der am besten erforschten Populationen an Pottwalen. Indessen kommen auf der Insel nicht nur Abenteurer auf ihre Kosten. Dominica lockt inzwischen mit einigen der luxuriösesten und teuersten Boutique-Hotels der Karibik. Auf hohen Klippen über goldgelben Stränden oder versteckt im Bergwald gelegen, setzen die vornehmsten Adressen wie das Secret Bay oder das Coulibri Ridge ganz auf Nachhaltigkeit und wohlhabende Urlauber, denen für eine wahre Auszeit eine intakte Natur genügt. Viel spricht dafür, dass die Insel auch in Zukunft kein Ziel des Massentourismus werden wird. "Die Leute auf Dominica haben erkannt, dass die Natur ihr wahres Kapital ist" sagt Bertrand. "Sie setzen sich dafür ein, dass sie auch in Zukunft erhalten bleibt."

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