Deutschland Die Zauberberge

Es war einmal in Berchtesgaden: Im äußersten Südostzipfel Deutschlands liegt eine Bergwelt, die beseelt und belebt erscheint, in der Hexen schlummern, ein Zauberwald wächst und über allem ein steinerner König wacht. &bdquo;König", so nennen sie hier den Watzmann, dessen Gipfel 2.713 Meter aufragt – übertroffen hierzulande nur noch von der Zugspitze. Er blickt auf eine Landschaft wie gemalt, eine Welt wie im Märchen. Was, wenn es wirklich eine Märchenwelt wäre? Wenn der Steinadler, der an einem Oktobermorgen hoch droben über den Gipfeln von Halskopf und Teufelskopf kreist, sprechen könnte? Würde er uns freudig berichten von dem strahlenden Sonnenschein und der tollen Thermik, die ihn nach zwei grauen Regentagen zur Jagd luden? Oder würde er klagen über das miserable Jahr, in dem die 15 vom Nationalpark Berchtesgaden beobachteten Adlerpaare nur einen einzigen Jungvogel durchbringen konnten? Würde er sich wundern über die Gruppe Wanderer unten im Klausbachtal, die ein ums andere Mal aufgeregt die Arme himmelwärts recken, wann immer er sich über den Grat gleiten lässt und die Menschlein da unten seine Silhouette erspähen? Und wieder. Er: segelt hinüber ins Tal. Sie: reißen die Arme hoch. &bdquo;I kann so ned arbeiten", grantelt ein Mann aus der Gruppe mit schulterlangem Haar und Zehntagebart, &bdquo;wenn i bei meinem Vortrag immer unterbrochen werd von diesem Vieh!" Natürlich meint Klaus Melde, Ranger im Nationalpark, das nicht ernst. Er freut sich, wenn der Gegenstand seines Vortrags sich den Teilnehmern der Adlerwanderung tatsächlich zeigt. Passiert keineswegs immer, aber heute hatte Melde sich berechtigte Hoffnung gemacht. Wegen der zwei verregneten Tage zuvor. &bdquo;Da ist der Adler wahrscheinlich nur rumgesessen. Der is ja ned bled." Heute hat der Hunger ihn in den Himmel getrieben. Ranger Melde ist einer von gut 100 Angestellten des Nationalparks Berchtesgaden, 1978 gegründet, 210 Quadratkilometer groß, zweitältester und einziger alpiner Nationalpark Deutschlands. Geprägt von drei Tälern, die sich, nord-südwärts gestreckt, aneinanderschmiegen: das Klausbachtal, über dem der Adler kreist, im Westen. In der Mitte das Wimbachtal, flankiert von Hochkalter und Watzmann, deren Gipfel Anfang Oktober schon Winterweiß tragen. Und der Watzmann-Ostwand zu Füßen das Tal, das der Königssee geflutet hat – steil, eng, wie ein Alpenfjord. Dass 2020 ein mieses Adlerjahr war, so mies wie noch nie in über 25 Jahren Monitoring, liegt am kältesten, nassesten Juni seit Jahrzehnten, erklärt Melde: &bdquo;Nässe oder ein Kälteeinbruch können einen jungen Adler umbringen." Alles in allem aber ist der Bestand stabil. Die Bedingungen im Nationalpark sind wie für den seltenen Steinadler gemacht. Der Aufwind. Die Steilwände, fein für Felsenhorste. Der reich gedeckte Tisch. &bdquo;Hier kannst du deine Krallen nach Herzenslust auf Hasen, Murmeltiere und junge Gämslein niederschnellen lassen", würde der Adler am Himmel, könnte er sprechen, zufrieden raunen. Weiter unten, am Ausgang des Klausbachtals, kann der Adler auf das Ergebnis einer unvorstellbar großen Gerölllawine blicken: auf den Hintersee, aufgestaut durch einen Bergsturz vor mehr als 3000 Jahren – und auf den Zauberwald, wo die Wurzeln bemooster Bäume sich knorrig um die stattlichen Überbleibsel jener Felslawine ranken. Ein märchenhafter Flecken. Folgt man der Ramsauer Ache aus dem Zauberwald, immer stromabwärts, ostwärts, gelangt man nach ein paar Kilometern zu einer Stelle, an der ein trüb-grauer Bach in die Ache mündet. Hier, bei der Wimbachbrücke, ist ein beliebter Ausgangs- und Endpunkt für die Watzmannüberschreitung, eine der schönsten und schwierigsten Gratwanderungen der Alpen. Dreieinhalb Stunden nach dem Start, auf 1.930 Metern gelegen, wartet das Watzmannhaus, eine Alpenvereinshütte mit Gaststube und 200 Schlafplätzen. &bdquo;Die meisten, die den Watzmann überqueren, übernachten hier", sagt Herbert Wendlinger, Wanderführer und Inhaber einer Skischule. &bdquo;Und des is a des Vernünftigste." Vernunft wird bei Wendlinger großgeschrieben. Im Tal verteilt er stets Wanderstöcke an die Teilnehmer seiner Touren. Und wenn ihm beim Aufstieg ein Absteiger entgegenkommt, der wegen Neuschnee vor dem Gipfel kehrtgemacht hat, gibt er ihm einen Trost mit auf den Weg: &bdquo;I sag immer: Es gibt mutige Bergsteiger. Und alte Bergsteiger. Aber keine alten, mutigen Bergsteiger." Für vernünftige Wanderer mit nicht gar so viel Zeit oder Kondition bietet sich das Watzmannhaus als Wende- und Höhepunkt einer Tagestour mit 1.200 Höhenmetern an. Immer wieder leitet Wendlinger &bdquo;Puls-Fitnesstouren" rauf zum Haus. Ursprünglich von einem ortsansässigen Herzspezialisten für Kurgäste ersonnen, sorgt eine solche Tour dafür, dass der Wandersmann oder die Wandersfrau im optimalen Pulsbereich bergwärts strebt. &bdquo;Faustregel: 180 minus Alter plus zehn Prozent", sagt Wendlinger. &bdquo;Oder einfacher: Solange man am Berg noch reden kann, ist alles in Ordnung." Jahrzehntelang hat Wendlinger seine 60.000 Höhenmeter im Jahr gemacht – &bdquo;mindestens", sagt er. Inzwischen, mit 65, tritt er etwas kürzer, ist aber immer noch sehr gut zu Fuß. Das wird auf der letzten Watzmann-Pulswanderung vor der Winterpause schon in der ersten steileren Passage klar. Wendlinger redet einfach weiter. Als sich ein Weitblick gen Norden eröffnet, hebt Wendlinger zur anatomischen Beschreibung einer Bergsilhouette an: &bdquo;Zehen, Nase, dazwischen der Busen." Und tatsächlich, so angeleitet, sieht man sie rücklings am Horizont liegen, die sagenumwobene &bdquo;schlafende Hexe". Oben am Watzmannhaus: Verschnaufen. Puls messen. Kaum sind die Rucksäcke der Wanderer geöffnet, erspäht Wendlinger eine zweite Geierart des Nationalparks, die als solche in keinem Vogelkundebuch zu finden ist: &bdquo;Ah, der Brotzeitgeier!", ruft er. Schon ist eine rabenschwarze Alpendohle im Landeanflug, furchtlos und frech, den Proviant der Berggänger im Blick. Der Soundtrack der Wanderung, vom frühen Morgen bis zur Abenddämmerung, ist ein vielstimmiges &bdquo;Servus!" und &bdquo;Grias di!", wann immer sich Grüppchen begegnen oder überholen. Schwer was los am Berg – und das mitten im Nationalpark. Leidet das Naturschutzgebiet womöglich unter &bdquo;Overtourism"? Eher ja, findet Ranger Klaus Melde. &bdquo;Die nennen mich nur noch Bademeister!", stöhnt er. Einen solchen Andrang auf den Königssee wie 2020 hat er in seinen 17 Nationalparkjahren noch nicht erlebt. &bdquo;Ich hoffe inständig, dass Corona bald vorüber ist. Dann können die, die eigentlich am Ballermann Urlaub machen wollen, das auch wieder tun." Für ein schaurig-spektakuläres Phänomen, das sich ganz oben im Nationalpark abspielt, hat dieses Publikum jedenfalls keinen Sinn: das Schwinden des einstmals &bdquo;ewigen Eises". Die Zeit der Berchtesgadener Märchenbergwelt, wie sie sich uns heute zeigt, läuft ab. Das weiß auch Nationalparkleiter Roland Baier. &bdquo;Der Temperaturanstieg durch den Klimawandel ist in den Alpen doppelt so hoch wie im Flachland", erklärt er. &bdquo;Unsere Gletscher, Watzmanngletscher, Blaueisgletscher ..." Baier führt den Satz nicht zu Ende. Das lässt Raum für einen Schlusssatz, der einer Märchenwelt würdig ist: Wenn sie nicht geschmolzen sind, dann leben sie noch heute.

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