Familiensprechstunde Geschwisterstreit: "Eltern sollten auf keinen Fall die Richterrobe anziehen"

Frau van Elkan, haben Sie eine beruhigende Nachricht für zermürbte Eltern? Yvonne van Elkan: Ja. Zum einen: Sie sind nicht allein, ich erlebe hier viele Eltern, die durch den täglichen Streit total ausgehöhlt und unglücklich sind, nicht mehr können. Und zum anderen: Geschwisterstreit ist völlig normal - selbst, wenn viele in Bezug auf die Heftigkeit oder die Häufigkeit schon längst nicht mehr das Gefühl haben. Studien besagen, dass es alle 10 bis 20 Minuten zu Auseinandersetzungen kommt. Aber warum ist das eigentlich so? Van Elkan: Weil es gar nicht anders geht. Die Beziehung zu unseren Geschwistern ist unsere längste und tiefste im Leben. Wir lieben Geschwister aus tiefstem Herzen - aber diese Emotionen haben eben auch eine andere, weniger positive Seite. Eine große Rolle spielt auch das Vertrauen, weil Geschwister im Kindesalter instinktiv wissen: der andere liebt mich hinterher trotzdem noch, egal, was ich mache. Und da kann der Streit auch durchaus körperlich werden. Gibt es Geschwisterkonstellationen, die besonders konfliktreich sind? Van Elkan: Gleichgeschlechtliche Geschwister streiten mehr, weil es eine stärkere Konkurrenz zwischen ihnen gibt. Eine große Rolle spielt deshalb auch, wenn der Altersabstand nicht so groß ist. Das heißt, es geht um Konkurrenz und Eifersucht? Van Elkan: Die Geschwisterforschung besagt klar, dass es in 75 Prozent der Konflikte um Eifersucht geht. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, das prägt auch die Konkurrenz zwischen Geschwistern. Und an dieser Stelle können Eltern mit einer entsprechenden Erziehung auch am entscheidendsten dazu beitragen, Konflikte zu verringern. Inwiefern? Van Elkan: Indem sie ihre Kinder nicht vergleichen. Das ist auch ganz wichtig in der Kommunikation. Sätze wie "Dein Bruder kann das aber schon" befeuern die Konkurrenz nur. Deshalb ist es wichtig, einen möglichst individualisierenden Blick auf die Kinder zu haben, jedes für sich mit seinen Stärken und Schwächen zu sehen. Was ist denn eigentlich richtig: Einzugreifen oder Kinder den Streit selbst austragen lassen, auch, wenn es heftig zur Sache geht? Van Elkan: Da gibt es eine klare Antwort: Langfristig ist die größte Aufgabe von Eltern, sich rauszuhalten und eine Beobachterrolle einzunehmen. Das ist der entscheidende Weg. Sonst lernen Kinder zum einen natürlich nicht, ihre Streitigkeiten selbst zu klären. Und sie legen sich auch kein dickes Fell zu, was sie aber müssen. Aber sollten die sich dann einfach gegenseitig die Köppe einschlagen? Van Elkan (lacht): Nein, das auch nicht. Elternaufgabe ist klar, ihre Kinder in die Lage versetzen und mit Fertigkeiten auszustatten, ihre Konflikte selbst zu lösen. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen und das geht auch noch nicht mit Kindern im Kita-Alter. Es ist auch nicht leicht, denn viele Kinder fordern von den Eltern ja geradezu ein, sich die Richterrobe anzuziehen. Übrigens auch, weil sie daraus ableiten: Wen hast du lieber? Welche Möglichkeiten haben Eltern denn, Kinder zu coachen? Van Elkan: Da gibt es einen Blumenstrauß an Möglichkeiten. Wichtig ist erst mal, die Dynamiken zu erkennen, den Kindern zu spiegeln, was schief läuft, und wie respektvoller, wertschätzender Umgang miteinandern abläuft. Dann ist es gut, zu vermitteln: Nehmt Euch Auszeiten voneinander, trennt Euch räumlich, wenn es gerade nicht miteinander geht. Ganz entscheidend ist es auch, dass Kinder die Grenzen des anderen respektieren. Ein Nein oder eine geschlossene Zimmertür sind dafür gute Beispiele. Das kann man übrigens auch alles in einem Familienvertrag festhalten. Also ein Regelwerk für alle? Van Elkan: Genau. Wichtig ist, dass der Vertrag gemeinsam erstellt wird, alle zusammen an einem Tisch. Kinder haben nämlich oft ganz erstaunliche, reflektierte Ideen beizusteuern. Und am Schluss unterschreiben alle, oder malen ein Zeichen darunter. Man kann auch eine feste Familienkonferenz einführen, in der es Raum für jeden gibt, zu sagen, was ihn stört. Wie verstärken Eltern Geschwisterstreit denn noch außer mit Vergleichen? Van Elkan: Wichtig ist auch, dass ältere Geschwister nicht immer Rücksicht nehmen müssen auf jüngere oder gleichgesetzt werden mit ihnen. Eltern dürfen ruhig deutlich machen: Ältere dürfen mehr, länger aufbleiben zum Beispiel. Dafür müssen sie auch mehr machen oder helfen. Diese Klarheit hilft auch den Jüngeren, denn durch falsche Gleichbehandlung entsteht bei ihnen manchmal die Fantasie, dass sie die Älteren doch noch einholen können. Warum zermürbt Eltern die ständige Fetzerei denn eigentlich so? Man könnte ja auch einfach sagen: Das ist das Ding der Kinder, wir halten uns raus. Van Elkan: Grundsätzlich hält der Mensch Streit nicht gut aus. Und je näher wir uns stehen, desto schlechter kommen wir damit klar. Viele haben außerdem die Vorstellung, dass Familienzeit schön sein soll und muss und sind dann ganz ernüchtert, wenn das nicht automatisch so ist. An der Stelle gibt es aber sowieso etliche Tabus, über die niemand spricht. Welche sind das denn? Van Elkan: Dass viele Mütter und auch Väter nicht zu jedem Kind eine gleiche oder gleichwertige Beziehung haben, zum Beispiel. Das wollen sich viele nicht eingestehen. Das spüren auch Kinder und das verstärkt Eifersucht natürlich auch. Ein anderes Thema ist "Regretting Parenthood", wenn also Väter oder Mütter ihre Elternschaft bereuen. Auch das beeinflusst das Klima in Familien selbstverständlich entscheidend.

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